Wie geht man am besten mit Wut um? Die Antwort auf diese Frage ist gar nicht so einfach, denn es gibt viele Ratschläge dazu aus den unterschiedlichsten Schulen. Einig sind sich fast alle, dass es nicht gesund ist, Wut zu unterdrücken. Ein ständiger Zustand innerer Wut kann im Verlauf der Zeit zu Burn-Out und Depressionen führen. Daher wird oft geraten: „Schaffen Sie einen Rahmen, in dem Sie Ihre Wut sicher rauslassen können!“ Also zum Beispiel einen Boxsack verprügeln. Oder etwas, das ich selbst jahrelang praktiziert habe, als ich noch zwei sehr kleine Kinder, einen Haushalt, einen explosiven Chef und einen Ganztagesjob als Pressechefin zu managen hatte: Alle und alles so gut wie möglich versorgen, das Auto nehmen, in den nahegelegenen Wald fahren, Motor abstellen und dann die Windschutzscheibe anbrüllen. Ich weiß nicht, wie viele Rehe ich so im Lauf der Zeit traumatisiert habe…
Kommt Ihnen bekannt vor? Viele von uns sind gefangen in Kreisläufen, die uns überfordern, und Wut erscheint oft der einzige Ausweg: Entweder wir lassen sie ungefiltert raus. Oder wir reißen uns zusammen und fressen die Wut in uns hinein. Ganz gleich wie wir mit der Wut umgehen: Sie verletzt! Entweder andere. Oder uns selbst. Und auch wenn wir sehr erwachsen damit umgehen und die Wut „an einem sicheren Ort rauslassen“, ist das Problem damit noch lange nicht gelöst. Genauso wenig, wie ein Aspirin die wahre Ursache dafür ist, dass unsere Kopfschmerzen verschwinden.
Deswegen lohnt sich der Blick auf das Thema Wut aus der Diamantschneider-Perspektive: Alles, was uns passiert, haben wir gepflanzt, indem wir zuvor jemand anderem genau dasselbe gegeben haben. Wut in unserem Leben kommt also davon, dass wir zu einem früheren Zeitpunkt Wut in das Leben eines anderen Menschen gebracht haben. Und es hilft auch nur wenig, wenn wir unsere Wut in geschütztem Rahmen herauslassen, denn auch hier gilt, dass diese Momente der Wut, während Sie auf Ihren Boxsack einprügeln, unausweichlich wieder neue Momente der Wut pflanzen. So können wir den Teufelskreis nicht brechen.
Es geht vielmehr darum, gar nicht erst wütend zu werden.
Wir wissen alle, wie schwer das ist: In schwierigen Situationen nicht wütend zu werden, ist nahezu unmöglich. Wir brauchen also Hilfe.
Hier sind die guten Nachrichten: Auch diese Hilfe kommt von den Samen. Sobald wir begriffen haben, dass die Wut von uns selbst kommt, und zwar von den Samen, die wir selbst gepflanzt haben, indem wir zuvor wütend waren, ist es fast ausgeschlossen, auf einen anderen wütend zu werden.
Eine kleine Geschichte macht es klarer:
Es ist Winter und weil Sie ständig kalte Füße haben, laufen Sie in Wollsocken durch Ihr Haus. Während Sie am Morgen im Bad schlaftrunken Ihre Zähne putzen, stellen Sie auf einmal fest, dass Ihre Socken eiskalt und patschnass werden. Jemand hat mal wieder geduscht ohne den Duschvorhang richtig zuzuziehen. Jetzt steht der ganze Boden unter Wasser – zum gefühlt tausendsten Mal in diesem Winter.
Wie von der Tarantel gestochen stürmen Sie in die Küche, wo Ihre Familie bereits friedlich frühstückt.
„Wer war das?“ – „Wer war was, Schatz?“ – „Wer hat den Duschvorhang wieder nicht richtig zugezogen und das ganze Badezimmer geflutet?“ und Sie halten Ihr durchnässtes Paar Socken anklagend in die Runde.
Ihr Ehepartner schaut Ihnen in die Augen: „Ich war es nicht, Schatz. Ich habe heute Morgen noch nicht geduscht.“ Ihr Sohn blickt Sie unschuldig an und bevor er überhaupt den Mund öffnet, wissen Sie, dass er es auch nicht war. Alle Augen richten sich auf Ihre Tochter, die sagt: „Irgendwer ist heute morgen ganz früh aufgestanden und hat geduscht. Und ich glaube, das warst du…“
Und plötzlich erinnern Sie sich. Sie hatten vergessen, dass heute Samstag ist, und waren wie gewohnt früh aufgestanden, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Sie hatten geduscht und vergessen den Vorhang zuzuziehen, weil Sie in Gedanken mit einem Problem im Job beschäftigt waren. Dann ist Ihnen eingefallen, dass Wochenende ist, und Sie haben sich wieder zu Ihrem Partner ins Bett gekuschelt.
Jetzt gehen Sie sicher nicht ins Badezimmer und schreien sich selber im Spiegel an (so wie Sie ganz sicher Ihre Tochter angeschrien hätten, wenn sie die Schuldige gewesen wäre). Sie wissen, dass das keinen Sinn hat. Sie wissen, Sie haben das Bad selbst geflutet. Also fassen Sie den Entschluss, das nächste Mal achtsamer zu sein und hängen Ihre Socken zum Trocknen auf.
Genauso verhalten Sie sich das nächste Mal, wenn jemand Sie anbrüllt und wütend macht. Sie bleiben ruhig, lassen die andere Person toben und beschließen, auf keinen Fall mit Wut zu reagieren. Und Sie nehmen sich vor, sich auch generell nicht mehr über Kleinigkeiten aufzuregen. Praktizieren Sie Gelassenheit, wann immer Sie merken, dass Sie anfangen, sich zu ärgern.
Je konsequenter Sie das tun, umso schneller werden ärgerliche Ereignisse und Menschen aus Ihrem Leben verschwinden. Denn wenn Sie ruhig auf andere Menschen reagieren, dann pflanzen Sie damit natürlich auch Menschen, die ihnen ruhig und gelassen begegnen.
Geschrieben für Diamond Management
von Ulrike Bienert-Loy
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